von Josias Terschüren
Oktober 2019
Josias Terschüren
Politisches Patt verordnet Israel Zwangspause – eine Zwischenbilanz
Israel durchlebt derzeit eine seiner schwersten politischen Krisen; nach der historischen zweiten Wahl innerhalb nur eines Jahres zeichnet sich noch immer kein Weg aus der politischen Sackgasse ab, in die führende Politiker das Land gefahren haben.
Ein kurzer Rückblick
Nach seinem knappen Wahlsieg im April des Jahres scheiterte der amtierende israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu überraschend daran, eine Regierungskoalition zu schmieden. Sein ehemaliger Verteidigungsminister Avigdor Liberman hatte sich zum politischen Nemesis entwickelt und die Koalitionsverhandlungen mit dem religiösen Lager sabotiert. Zankapfel war die Reform der Wehrpflicht, von der David Ben Gurion der damals kleinen ultraorthodoxen Minderheit schon bei der Staatsgründung großzügige Ausnahmen zugestanden hatte, ein mit der Zeit und dem Wachstum des ultraorthodoxen Bevölkerungsanteils gesellschaftlich immer schwieriger zu vermittelndes Privileg, das Liberman eingrenzen wollte. Die religiösen Parteien zeigten sich zu für sie einschneidenden Kompromissen bereit, doch Liberman hielt an maximalistischen Forderungen fest und ließ darüber letztendlich die Koalitionsverhandlungen platzen.
Dadurch schrumpfte das rechte Lager und verfügte seither nicht mehr über die erforderliche parlamentarische Mehrheit von 61 Sitzen. Anstatt dem anderen Lager die unwahrscheinliche Möglichkeit zur Bildung einer Regierung einzuräumen, setzte Netanjahu den Prozess zur Auflösung der Knesset in die Gänge und strebte Neuwahlen für den 17. September 2019 an.
Politischer Impasse
Doch auch das amtliche Wahlergebnis der zweiten Wahl [1] brachte keine Besserung, ganz im Gegenteil, die Situation wurde noch verfahrener; immer noch waren beide Lager, sowohl das rechte, als auch das linke unfähig aus eigener Kraft eine Mehrheit zu erreichen. Obwohl Netanjahus Herausforderer und früherer Stabschef Benjamin Gantz mit seinem Parteienbündnis Blue & White einen Sitz mehr als Netanjahus Likud ergattern konnte, erhielt Letzterer trotzdem den Auftrag von Staatspräsident Reuven Rivlin, eine Regierung zu bilden.[2] Netanjahu hatte bei den Empfehlungen durch Politiker anderer Parteien eine Stimme Vorsprung vor Gantz, der, und das ist außergewöhnlich, auch die Unterstützung von zehn der dreizehn Abgeordneten der antizionistischen Vereinigten Arabischen Liste erhalten hatte. Bereits direkt nach der Wahl hatte Netanjahu mit den religiösen und rechten Parteien (Likud, Shas, UTJ, Yamina) einen festen Block mit 55 Stimmen gebildet, mit dem Versprechen nur gemeinsam und nur unter Netanjahu in eine Regierung einzutreten. Seither sieht die politische Realität in Israel so aus, dass es entweder eine neue Regierung unter Benjamin Netanjahu geben wird oder eine dritte Wahl, kein anderer Kandidat kann in der derzeitigen politischen Lage eine Regierung formen. Sollte es zu einer erneuten Wahl kommen, würde diese dann vermutlich im März nächsten Jahres stattfinden.
Netanjahu hat bis zum 24. Oktober Zeit, um andere Parteien für eine eventuelle Koalition zu gewinnen, spätestens dann muss er sein Mandat zur Regierungsbildung wieder abgeben. Doch seit mittlerweile zehn Tagen finden keine Koalitionsverhandlungen mehr statt. Warum? Gil Hoffman, der Knesset-Korrespondent der Jerusalem Post argumentiert [3], dass Netanjahu auf folgende Entwicklungen wartet:
- 7.Oktober: Ende der Anhörung durch den Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit im Justizministerium. Vier Tage lang hat Mandelblit die Anwälte des Regierungschefs zu den Anschuldigungen befragt, bei denen es um Bestechlichkeit, Betrug und Untreue geht. Nach der Anhörung wird Mandelblit entscheiden, ob er Anklage gegen Netanjahu erhebt – Experten rechnen mit einer Entscheidung innerhalb eines Monats. Davon hängt die Machbarkeit einer Koalition der „nationalen Einheit“ zwischen dem Likud und Blue & White (+ eventuell Liberman) ab, denn Gantz hatte es zuletzt für unmöglich erklärt, eine Einheitsregierung zu bilden, solange der Ministerpräsident von einer förmlichen Anklage bedroht sei. [4]
- 9.Oktober: Avigdor Liberman hatte versprochen nach dem hohen jüdischen Feiertag Jom Kippur einen Plan für die Bildung einer Koalition der nationalen Einheit vorzulegen. Sollte Liberman Netanjahu als ersten Ministerpräsidenten in einem Rotationsprinzip vorschlagen, bei dem Netanjahu und Gantz sich nach zwei Jahren im Amt des Regierungschefs abwechseln würden, gäbe das Netanjahu einen Boost.
- 10.Oktober: Das Zentralkomitee des Likud wird zusammenkommen und festsetzen, dass niemand als alleine Netanjahu für den Likud eine Regierung bilden darf. Aller Voraussicht nach wird das Komitee Netanjahu frischen Rückenwind geben, damit er gestärkt und mit freiem Rücken in die Phase von 21 Tagen hineingehen kann, in denen Benny Gantz als zweiter Kandidat die Chance zur Regierungsbildung erhalten wird.
Auch wenn gewisse Teile der westlichen Medien- und Politikwelt längst mit den Abgesängen auf Netanjahu beschäftigt sind, ist es noch nicht erwiesen, dass die Tage des Ausnahmepolitikers gezählt sind. Mit einer geschickten politischen Finte hatte der Politfuchs seinen potentiellen internen Herausforderer Gideon Saar aus seiner Deckung gelockt und öffentlich vorgeführt. Saar reagierte auf Twitter mit „Ich bin bereit“ [5] auf Netanjahus Ankündigung, vorgezogene Wahlen für den Parteivorsitz des Likud zu planen. Netanjahu steht unter enormem Druck durch potenzielle interne Herausforderer, das Damokles-Schwert eines drohenden juristischen Verfahrens und seine politischen Widersacher Gantz, Lapid und Liberman, ganz zu schweigen von der Drohkulisse äußerer Feinde, wie der Hisbollah, Hamas und allen voran, dem iranischen Regime. Für ihn ist es ein Kampf um sein politisches Überleben, für Israel ein Scheideweg, während sich das Schicksal eines der größten jüdischen Anführer der Moderne entscheidet.
Kompromisse oder Neuwahlen
Um Neuwahlen zu vermeiden, was im Interesse der israelischen Demokratie läge, müssten die verhärteten Fronten aufgebrochen werden – Hoffman weist auf das Dilemma hin, dass bislang noch alle Spitzenpolitiker bei ihren Wahlversprechen geblieben sind, mit denen sie de facto gewisse mögliche Koalitionen ausgeschlossen haben. Diesen Umstand hatte auch Staatspräsident Rivlin in seiner Rede anlässlich des Regierungsauftrags an Netanjahu beklagt: „Es ist unwichtig, wen ich zuerst mit der Regierungsbildung beauftrage, oder wen, wenn nötig, als zweiten. Sofern der Boykott und das Ausschließen von gesamten Segmenten der israelischen Gesellschaft nicht beendet werden, solange es keine Motivation gibt, neue Bündnisse zwischen großen und kleinen Parteien zu schließen, solange es keinen aufrichtigen Willen gibt, Vereinbarungen zu erreichen, Kompromisse zu schließen, wird es keine Regierung geben.“ [6]
Optionen für solche neuen Bündnisse bieten sich einige: Allen voran die von Rivlin favorisierte und offen propagierte Regierung der nationalen Einheit, die aus den obengenannten Gründen bislang nicht hervorgekommen ist. Alternativ könnte eine Likud-geführte Regierung auch zustande kommen, wenn es Netanjahu gelänge, eine der drei Parteien aus dem Parteienbündnis Blue & White herauszulösen. Zu guter Letzt wäre auch eine Koalition mit der Arbeiterpartei denkbar.
Israel hat 70 Jahre nach seiner wundersamen Staatsgründung einen großen Kampf zu bestehen, einen Kampf gegen sich selbst. Es braucht Brückenbauer und Versöhner, um die verschiedenen feindlichen Lager innerhalb der israelischen Gesellschaft zu einen, die Risse zu schließen und einen Zusammenhalt wiederherzustellen.
Angesichts der vielfältigen inneren und äußeren Herausforderungen ist Eile geboten: StichwortWehrpflicht, Stichwort Jordantal: Netanjahu hatte in Absprache mit den USA die Ausdehnung des israelischen Grundgesetzes auf das Jordantal angekündigt, was eine de facto Annexion des Territoriums in Übereinstimmung mit UNSR-Resolution 242 darstellen würde (ganz im Sinne der Argumentation der US-Regierung zu den Golanhöhen). [7] Ein solcher Schritt würde unweigerlich internationale Proteste auslösen, vor allem von den Europäern. Damit wären wir auch schon bei dem anstehenden Friedensprozess: Die Amerikaner haben die Veröffentlichung ihres Plans ein weiteres Mal auf nach den Wahlen verschoben und warten seither. Auch hier braucht es eine stabile Regierung, die Israel und ihre Interessen in diesem Prozess vertreten kann. Nicht zu sprechen von den vielen militärischen Konfliktherden um Israel herum. (Hamas im Westen, Hisbollah und Iran im Norden, Al-Qaida im Süden und der Iran im Osten). Schon jetzt ist die israelische Luftwaffe intensiv dabei, die eigenen roten Linien angesichts der zunehmenden Aggression des iranischen Regimes aufrechtzuerhalten, sei es im Libanon, in Syrien, im Irak oder im Gazastreifen. Es ist diese Ebene, auf der sich alle relevanten politischen Kräfte einig sind. Netanjahu ließ z.B. vor den Wahlen ohne Not oder gesetzlich dazu verpflichtet zu sein, seinen Rivalen Benjamin Gantz von seinem Sicherheitsteam über die Lage briefen. [8]
Ganz gleich, wie genau Israel aus dem momentanen politischen Stillstand herauskommen wird, erscheint eine breitere Regierungskoalition mit Kräften von Mitte rechts und Mitte links unausweichlich. Eine solche Regierung könnte Israel im Inneren Ruhe und Zeit zur Heilung verschaffen bzw. und nach außen hin mit der gebotenen Robustheit und Stärke auftreten, während sie sich den Konflikten und vielfältigen offenen Türen widmet.
Quellen:
[1] https://embassies.gov.il/berlin/NewsAndEvents/Pages/Amtliches-Wahlergebnis-ist-da.aspx?utm_source=InforuMail&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+26.09.19
[2] https://embassies.gov.il/berlin/NewsAndEvents/Pages/Rivlin-beauftragt-Netanyahu-mit-Regierungsbildung.aspx?utm_source=InforuMail&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+26.09.19
[3] https://www.jpost.com/Israel-News/Why-is-Netanyahu-maintaining-the-mandate-analysis-603897
[4] https://www.welt.de/newsticker/news1/article201299470/Regierung-Netanjahu-kaempft-ums-politische-Ueberleben.html
[5] https://twitter.com/gidonsaar/status/1179707437735186433
[6] https://embassies.gov.il/berlin/NewsAndEvents/Pages/Rivlin-beauftragt-Netanyahu-mit-Regierungsbildung.aspx?utm_source=InforuMail&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+26.09.19
[7] https://www.wsj.com/articles/international-law-backs-the-trump-golan-policy-11557875474
[8] https://www.timesofisrael.com/as-war-fears-skyrocket-netanyahu-orders-rare-security-briefing-for-rival-gantz/