Anfang März besuchte uns Dr. Alexej Heistver, der bei unserer Gedenkveranstaltung als Überlebender der Shoah aus seiner Kindheit berichtete, in unserem Büro. Anlass dafür war, dass er sein Buch „Verwundete Kindheit“ für uns signierte, welches er bei der Gedenkveranstaltung erwähnte.

Dr. Heistver wird meistens gebeten, aus seiner frühen Kindheit zu erzählen, in der er im Ghetto und späteren Konzentrationslager Kaunas (Litauen) medizinische Versuche durchlitt. Auf die Länge seines Lebens betrachtet ist dies jedoch nur ein kleiner Teil seiner Geschichte. Bei seinem Besuch erzählte er auch vom Fortgang seines Lebens:

Da ist zum Beispiel sein jüdischer Adoptivvater, der als Militärberichterstatter in sowjetrussischen Zeiten viel auf Reisen ist, manchmal auch zusammen mit seinem Adoptivsohn Alexej – und der als Redaktionsleiter einer Zeitschrift, die an Stalins Geburtstag an viele militärischen Einheiten verteilt werden sollte in letzter Minute einen folgenschweren Fehler entdeckte: Durch nur einen falsch gesetzten Buchstabe wäre aus Stalin, der in besonderer Weise den Fußstapfen Marx‘ und Lenins folgte, ein Stalin geworden, der diesen Fußstapfen eben nicht folgte. Sein Adoptivvater, der seine Position und Parteimitgliedschaft nutzte, um Juden, die durch das Denunziationssystem angeschwärzt wurden, aus brenzligen Situationen zu retten und der selbst immer wieder um sein eigenes Wohlergehen zu bangen hatte, ließ die gesamte Auflage vernichten, die sich versandbereit auf den LKWs befand. Natürlich zog dies eine Vorladung bei der Partei nach sich… Sein recht früher Tod ist Zeugnis dieses jahrelangen Drucks, unter dem sich sein Adoptivvater befand.

Auch Alexej, der als Geschichtswissenschaftler europäische Geschichte und Beziehungen erforschte, geriet regelmäßig in Verdacht, gegen das Regime zu arbeiten. Immer wieder wurde auch er vorgeladen und verhört. Dabei waren nicht etwa kritische Passagen seiner wissenschaftlichen Arbeiten das Problem, sondern gerade deren Abwesenheit – denn schließlich würde jemand, der so sehr darauf bedacht ist, keine Fehler zu machen, doch bestimmt etwas im Schilde führen. Die Verhörungspraktiken, in denen Freunde und Kollegen gegeneinander ausgespielt wurden und in Drucksituationen Dinge zu Protokoll gaben, die gar nicht der Wahrheit entsprachen, taten ihr Übriges.

Er widmete den Teil seines Lebens, den er später in Deutschland verbrachte, der Aufarbeitung und Erforschung der Geschichten der „Child Survivors“, also derer, die den Holocaust im Kindesalter überlebten. Daraus entstand ein aktiver Einsatz für die Anerkennung ihrer Schicksale als Holocaustüberlebende. Der aus diesem Anliegen heraus gegründete Verein „Phönix aus der Asche – Die Überlebenden der Hölle des Holocaust e.V.“ wird kommenden Sommer die letzte Bildungsreise für Schüler anbieten – das hohe Alter der Vereinsmitglieder erfordert nunmehr die Beendigung ihrer Aktivitäten.

Wir empfinden es als große Ehre, dass Alexej Heistver, der die letzte Etappe seines Lebens angetreten hat, uns mit seiner Offenheit fast so etwas wie ein Vermächtnis hinterlassen hat.