Am “Schicksalstag der Deutschen”, den 9. November, war im Bundestag auch in diesem Jahr eine Debatte zur Frage der Antisemitismusbekämpfung anberaumt. Unter dem Titel “Antisemitismus bekämpfen – Erinnern heißt handeln” hatten Vertreter aller Fraktionen Gelegenheit, ihre Sicht und Forderungen dazu zu äußern. Als Ehrengäste waren Ron Proser, Botschafter des Staates Israels, und Mark Dainow, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf der Tribüne anwesend.

Fraktionsübergreifend herrschte Einigkeit über die besondere Schwere der nationalsozialistischen Verbrechen, die in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1938 erstmals so sichtbar wurde: Innenministerin Faeser bezeichnete diese Nacht als „eine Nacht der Schande für unser Land“, Dirk Wiese (SPD) als „schrecklichsten Zivilisationsbruch der Geschichte“, Petra Pau (Linke) als „unsägliches Menschheitsverbrechen“. Genauso betonten alle, dass die Erinnerung daran nicht verblassen darf, um mit allen Mitteln zu verhindern, dass etwas derartiges wieder geschieht. Eine Weiterentwicklung, ein Neudenken der Erinnerungskultur wurde dabei für notwedig erachtet, denn auch für zukünftige Generationen wird eine Auseinandersetzung mit der Shoah unablässlich sein.

Gleichwohl wurde die aktuelle Lage in Deutschland nicht beschönigt: Dass heute Juden in Deutschland Angst haben (Kaddor, Grüne), dass sie nicht wagen, sich öffentlich jüdisch zu bekennen, weil es eine Gefahr für Leib und Leben sein könnte (Pau, Linke), dass antisemitische Straftaten weiterhin zunehmen (Innenministerin Faeser, SPD), dass von den 200.000 noch lebenden Holocaustüberlebenden 70.000 in Armut leben (Schönberger, Grüne), dass jüdische Schulen und Kitas Polizeischutz brauchen (Innenministerin Faeser, SPD), dass es möglich ist, dass eine steuerfinanzierte Kunstausstellung antisemitischen Inhalten eine Bühne gibt (Breilmann, CDU) oder dass das Goethe-Institut Tel-Aviv mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 9.11.2022 zu einer Veranstaltung unter dem Titel “Nakba – den Schmerz der anderen verstehen” einlädt (Teuteberg, FDP), dass auf Klimademos antisemitische Parolen skandiert werden (von Storch, AfD) – all das zeigt, dass Antisemitismus leider immer noch zu Deutschland gehört (Schönberger, Grüne).

Die Frage, wo sich dieser Antisemitismus heute genau befindet – am Rande der Gesellschaft oder in ihrer Mitte, an deren rechtem oder linkem Rand, im islamistischen Milieu oder bei Zugewanderten, bei Verschwörungstheoretikern oder Kapitalismuskritikern – beantwortete jede Partei erwartungsgemäß verschieden. Ein „360-Grad-Blick“ (Breilmann, CDU/CSU) scheint inzwischen nötig, um Antisemitismus zu erkennen und ihm entgegenzutreten.

Hoffnungsvoll stimmen Initiativen, die junge Leute aus Israel und Deutschland zusammenbringen, die Freundschaft bauen, die auch heute jüdische Kultur und jüdisches Leben positiv in den Vordergrund stellen – die zeigen, dass jüdisches Leben seinen festen Platz in Deutschland hat.

Wir wollen hoffen, dass diesen Worten – gemäß des Losungswortes der Debatte – auch Taten folgen. Taten, die konkret dazu beitragen, dass sich jüdische Menschen in Deutschland sicher, zugehörig und wertgeschätzt wissen.