Wer am 26. Januar 2023 den großen Saal des Gemeindehauses der jüdischen Gemeinde am Bahnhof Zoo betrat, um an der diesjährigen Holocaustgedenkveranstaltung der Initiative 27. Januar e.V. teilzunehmen, nahm zuerst wahr, dass die Stühle rund um eine zentrale Drehbühne aufgestellt waren. So entstand ein Raum des gemeinschaftlichen Zuhörens, ganz gemäß des Veranstaltungsmottos „Dem (Über)Leben zuhören“. Auf dieser Bühne saßen die verschiedenen Impulsgeber und Impulsgeberinnen und der Hauptvortragende des Abends, Dr. Alexej Heistver, im Kreis. Musikalisch umrahmt wurde der Abend von Poetryslammer Marco Michalzik und Musiker Manuel Steinhoff, die mit nachdenklichen Worten und elektronischen Klängen auf ungewöhnliche Weise zum Innehalten einluden.

Yaki Lopez, Gesandter-Botschaftsrat der israelischen Botschaft, sprach in seinem Grußwort vom Schweigen der Holocaustüberlebenden nach dem Krieg, und was es für die nachfolgende Generation, die eben doch die Schreie der Eltern in der Nacht hörte, bedeutete. Oftmals bekam erst die Enkelgeneration Antworten auf ihre Fragen. Er wies darauf hin, dass auch die beste Erinnerungskultur kein Garant für Immunität gegen den Antisemitismus sei, der „wieder ein aktuelles, tägliches gesellschaftliches Problem in Deutschland“ sei. Er forderte null Toleranz und klare Kosequenzen für das Überschreiten roter Linien.

Frank Müller-Rosentritt, Bundestagsabgeordneter der FDP-Fraktion, eröffnete die Impulsrunde, indem er von seiner Begegnung mit Gidon Lev erzählte, einem Holocaustüberlebenden, der auf TikTok seine Geschichte erzählt und dort viele junge Menschen erreicht. Er legte den Finger ebenfalls auf aktuelle Beispiele von Antisemitismus in Deutschland und zeigte den akuten Handlungsbedarf auf.

Die Präsidentin der jüdischen Studierendenunion in Deutschland, Anna Staroselski, wies in ihrem Impuls den immer wieder zu hörenden Vorwurf der „Antisemitismuskeule“ entschieden zurück, denn dieser dient nur dazu, aus Opfern, die über antisemitische Übergriffe berichten, zu keulenschwingenden Tätern zu machen. Das Beispiel von der Lächerlichmachung einer Kommilitonin in Chemnitz, die gegen Hakenkreuzschmierereien an ihrer Wohnung Anzeige erstatten wollte, war erschütternd.

Frank Heinrich, Vorstand der Evangelischen Allianz in Deutschland, berichtete von seinen Erlebnissen als Schirmherr eines Programms, das jungen Leuten dreiwöchige Praktika in Auschwitz vermittelte. Zu sehen, dass es in diesem Rahmen bei einigen Jugendlichen „Klick machte“, ermutigte ihn und bestärkte ihn in dem Verständnis, dass wirkliche Veränderung nicht durch Lippenbekenntnisse, sondern durch Veränderung des Herzens geschieht.

Die Unternehmensberaterin und Deutsch-Iranerin Dr. Ana Hoffmeister nahm das Publikum mit hinein in ihr Erleben des iranisch-israelischen Verhältnisses und spannte den Bogen von der historischen Verbindung der beiden Völker bis hin zur aktuellen Bedrohungslage. Sie glaubt trotz allem, dass die Bestimmung des Iran nicht die Feinschaft zu Israel sei. Sie wies ebenfalls auf die Rolle Deutschlands darin hin, das sich als wichtigster Handelspartner des Iran schwertut, sich entschieden hinter das Existenzrecht Israels zu stellen.

In seinem bewegenden Vortrag sprach Dr. Alexej Heistver von seiner frühen Kindheit im Ghetto und späteren Konzentrationslager Kaunas (Litauen), wo er, herausgerissen aus seiner Familie, Opfer medizinischer Versuche eines sadistischen NS-Arztes wurde. Er war eines der wenigen Kinder, die in der Nacht vor der endgültigen Zerstörung des KZs im Wäschesack einer couragierten Putzfrau und dank eines Aufsehers, der bewusst ein Auge zudrückte, gerettet wurden. Dass es ihm heute möglich ist, zu sprechen und seine Geschichte zu erzählen grenzt an ein Wunder.

Seinem Vortrag schloss sich der Gedenkmoment an: Aus der überwältigenden und schwer zu fassenden Masse der Opfer wurden sechs Personengruppen herausgegriffen, deren Verlust, Leiden und Sterben beim entzünden der sechs Kerzen gedacht wurde. Herrn Samsovics Klarinettenmusik gab einen würdigen Rahmen.

Beim Abschlusstext von Marco Michalzik war das Publikum geladen, die eigenen kleinen Lichter zur mittigen Bühne zu bringen und sich so symbolisch einzuklinken in das Gedenken, das zum Handeln führt.

Die Gedenkveranstaltung, inklusive Dr. Alexej Heistvers Lebenszeugnis, kann in voller Länge auf unserem Youtube-Kanal angesehen werden.

Ein kurzer Ausschnitt direkt hier: